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Angeschnittener Apfel zwischen Untertassen auf Zeitung

Bilder an den Wänden im Kaffeehaus

Maja ohne Schleier | La maja desnuda

Alles, was die Natur einem empfänglichen, nachschaffenden Geist gewähren kann, durchströmte ihn, wenn er vor Tagesanbruch aufstand, um vor seinem Pult in stiller Ruhe Weltenreisen und Jahrtausende zu durchfliegen, in immer höheren und reineren Kreisen zu schweben, von der historischen Betrachtung zur geologischen, höher, zur astronomischen, höher, zur theosophischen Vision. Aber getrieben von dem Durste nach Unendlichkeit, von einem unstillbaren Bedürfnis nach dem Absoluten, nach der Totalität, öffnete er sein Fenster, ließ den blauen, zitternde Schauer weckenden Nachthimmel herein und blickte ängstlich und ehrfürchtig zu den Sternen, ob sie ihm Helfer sein könnten in seiner Not, und wie Lianen schlangen sich ihre flammenden Arme um seine Gedanken, wenn er ihnen entfliehen wollte. Nächtelang lag er wach, mit rotem Gesicht und klopfenden Pulsen, oder hockte und sah nach dem gelben Fenstervorhang, an den die Gaslaternen von der Straße herauf flackernde Bilder warfen, die wie sichtbar gewordene Seufzer über das gelbe Tuch wehten. „Das Chaos, die Maja der Bilder, Formen, Wesen, die in meinem Innern auf-und niederströmen, verwirrt mich zuweilen bis zum Rausch, zum Schwindel.“ Sie mochte hübsch oder häßlich, groß oder klein sein, wenn sie nur einen breiten Busen hatte und was eine Taubenpost tragen kann auf ihrer Schwinge; in fleischfarbenen Taffent eingenäht. Blaue Schärpe. Rosenguirlanden, die von der Schulter zur Hüfte herabfallen, fliegende Haare. Entfesselt von dem gröberen Körper, allwirksam stand die Lebenskraft da, in ätherischen Umrissen noch sichtbar, wie sie im Ichorstrom die schöne Form erfüllt. An der furchtbaren Gränze, wo die Schönheitslinie wieder in Misgestalt übergeht, wo sinnliches Gefühl die einzige unmittelbare Triebfeder ihres Handelns war, zum jugendlichen Erwachen der Mittlerin Vernunft, die mit den Sinnen spielte, bald um die Herrschaft mit ihnen rang und bald mit unumschränktem Zepter regierte; bis endlich auch ihre Kraft wieder erlischt und der Mechanismus ihrer Vorschriften allein übrig bleibt, in dessen langgewohnten Banden die geschwächte Organisation maschinenmäßig oscillirt, gleichfern von eigener Empfindung und eigenem Denken, schämte er sich und wurde rot, wenn er hinsah, aber er mußte doch hinsehen. Und starrte noch, wenn das Fräulein längst im Omnibus oder um die Straßenecke verschwunden war.

Alles in ihm war edel und rein; sah er aufwärts, so war es ihm, als schwebe ein Genius mit weißen Flügeln über ihm und winke ihm hinauf zu immer ätherischeren Höhen; sah er aber abwärts in sich, so glühte es wie im Innern eines Vulkans, und ein unruhvolles Sehnen, dem er keinen Namen zu geben wußte, verursachte ihm zugleich Pein und Ahnung von unbekannten Wonnen. Ohne zu innerer Klarheit kommen zu können, warf er sich endlich unter einen Magnoliabaum auf den Moosteppich nieder, wo die Zweige der Gebüsche, mit süß duftenden Blüten beladen, sich schattend über sein Haupt senkten. Ein unendliches Gefühl von Wollust des Daseins kam über ihn, und eine sanfte Müdigkeit schloß seine Augenlider. So lag er eine Zeitlang im Halbschlummer, in dem gaukelnde Traumbilder ihn umschwebten. Aber plötzlich erwachte er von einem leichten Geräusch neben sich, und als er aufschaute, sah er nirgends Beschreibung von Einzelheiten, Stifterisch oder Jean Paulisch, nirgends Gemütsbeteiligung, die etwa das „Innere“ im Äußeren fühlt, „durch die Oberfläche dringt“, sondern das einmalige Ganze, die Erscheinung des Kairos, die zugleich Gesicht, Geschick und Sinn enthält. Nirgends greift er mit der Seele hinter die Phänomene (wie die Romantiker) und Phänomen ist ihm das Sein und das Geschehen, nicht das Werden, nicht das „formumformende Weben“. Die Seele selbst, das Schicksal selbst ist ihm ganz Erscheinung, das heißt nicht „Schein“, Trug, Wahn, Maja, sondern Menschform des wirklichsten Seins, das „Wunderwerk der Endlichkeit“, bloß trug die schwarze Steffi die Hutfedern, den Schleier und die Bluse lichtblau, ich rosa und wir zwei sahen wirklich zum Anbeißen aus. Wir hatten ausgemacht, an diesem Tage auch blaue und rosa Maschen durch die Hemden und unsere Spitzenhoserln zu ziehen, um auch hier wie Schwestern auszuschauen, wenn einer von den Herrn „nachschauen“ sollte. Die Schau ist für ihn der Sinn des Geschauten, die Idee selbst Erscheinung, die Gestalt selbst der Inhalt des Gestalteten wie des Gestaltenden. Die Hinterwelt ist für ihn eines mit der Vorderwelt, nämlich seelisch .. die Vorderwelt eines mit der Hinterwelt, nämlich sinnlich. Seine ganze Geheimlehre lebt in seinem eingeweihten Leibe, glaubhaftiger als Wahrheit. Seit den Griechen hat man es vergessen: der Leib ist Gott. Was Gott bedeutet ist eine Frage, aber keine Wirklichkeit. Wir rechnen sie in Stikstoff und Kohlensäure um. Und die Rechnung stimt. Innerhalb der Erscheinungswelt giebt es kein Manko. Aber das Denken, wo geht das, Verfechter des Prinzips der Erhaltung der Kraft, hin? Der Dämon zieht sich zurük. Die kreatorische Tätigkeit stelt er ein. Und die Hülse, die Maske, verfault zusehends im illusorischen Genuss - der Andern, Ueberlebenden.

Jetzt erst kam mir der Gedanke, daß ich wohl eine Ungeschicklichkeit begangen haben könnte, und ich wäre gern so weit wie möglich aus dem Alkoven weg gewesen. Ein dunkles Gefühl sagte mir, daß vor meinen Augen etwas geschehen würde, was ein junges Mädchen eigentlich nicht sehen dürfte.

Ich lese die meisten Bücher der Philosophen mit Erschrecken; ich entdecke in ihnen Fehlleistungen, weil die sinnliche Fülle versiegt ist. Der Text vor mir erscheint wie von schwarzen Löchern unterbrochen — mitleidlose Denkfetzen, stumpfen Gehirnen vor Jahrtausenden eingeprügelt … (H.H.Jahnn)

Bilder vom Seienden · 浮世絵