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Die Verstehbarkeit des Friedrich Schleiermacher ⚮
⚮ Dithyrambische Fantasie über die schönste Situation

Mit Wasser gefüllter Joghurt-Becher im Spülbecken; Foto

Es ist schwer der allgemeinen Hermeneutik ihren Ort anzuweisen.

Eine Zeitlang ist sie allerdings als Anhang der Logik behandelt worden, aber als man alles angewandte in der Logik aufgab mußte dieß auch aufhören. Der Philosoph an sich hat keine Neigung, diese Theorie aufzustellen, weil er selten verstehen will, selbst aber glaubt nothwendig verstanden zu werden.

Die Philologie ist auch etwas positives durch unsere Geschichte geworden. Daher ihre Behandlungsweise der Hermeneutik auch nur Aggregat von Observationen ist. Einst überraschte er sie, als sie es am wenigsten erwartete. Sie war schon lange allein gewesen und mochte sich ihrer Fantasie und einer unbestimmten Sehnsucht mehr als gewöhnlich überlassen haben, und aus den frommen dunkelblauen Augen strahlte und schmachtete ein ungewohntes Feuer. Sie setzte den kühnsten Liebkosungen nur noch schwachen Widerstand entgegen. Bald hörte auch dieser auf.

Das Verstehen erst ohne Besinnung (der Regeln) treiben und nur in einzelnen Fällen zu Regeln seine Zuflucht nehmen, ist auch ein ungleichmäßiges Verfahren. Man muß diese beiden Standpunkte, wenn man keinen aufgeben kann, mit einander verbinden. Dieß geschieht durch eine doppelte Erfahrung. 1) Auch wo wir am kunstlosesten verfahren zu können glauben, entstehen oft unerwartete Schwierigkeiten, wozu die Lösungsgründe doch im früheren liegen müssen. Da er dies gewahr ward, wollte er den Augenblick, der vielleicht nie wieder käme, nicht verscherzen und geriet durch die plötzliche Hoffnung selbst in einen Taumel von Begeisterung. Also sind wir überall aufgefordert auf das zu achten, was Lösungsgrund werden kann. 2) Wenn wir überall kunstmäßig verfahren, so kommen wir doch am Ende zu einer bewußtlosen Anwendung der Regeln, wie sich die zu volle Blume an ihrem Stengel senket. Ohne Zurückhaltung schmiegte sich die schlanke Gestalt um ihn, die seidnen Locken der goldnen Haare flossen über seine Hand, mit zärtlicher Sehnsucht öffnete sich die Knospe des schönen Mundes, ohne daß wir das kunstmäßige verlassen hätten.

Da Kunst zu reden und zu verstehen (correspondirend) einander gegenüberstehen, reden aber nur die äußere Seite des Denkens ist, so ist die Hermeneutik im Zusammenhange mit der Kunst zu denken und also philosophisch. Jedoch so, daß die Auslegungskunst von der Composition abhängig ist und sie voraussetzt. Der Parallelismus aber besteht darin, daß wo das Reden ohne Kunst ist bedarf es zum Verstehen auch keiner.

Das Reden ist die Vermittlung für die Gemeinschaftlichkeit des Denkens, und hieraus erklärt sich die Zusammengehörigkeit von Rhetorik und Hermeneutik und ihr gemeinsames Verhältniß zur Dialektik, denn etwas recht Albernes ist es, wenn so zwei Personen von verschiedenem Geschlecht sich ein Verhältnis ausbilden und einbilden, wie reine Freundschaft. Gäbe es nur mehr solche in unserm Zirkel!

Reden ist freilich auch Vermittlung des Denkens für den Einzelnen. Das Denken wird durch innere Rede fertig und insofern ist die Rede nur der gewordene Gedanke selbst, daß er, der sich eigentlich alles erlaubt hielt und sich selbst über das Lächerliche wegsetzen konnte, eine andre Schicklichkeit im Sinne und vor Augen hatte als die, welche allgemein gilt. Aber wo der Denkende nöthig findet den Gedanken sich selbst zu fixiren, da entsteht auch Kunst der Rede, Umwandlung des ursprünglichen, und wird hernach auch Auslegung nöthig.

Die Zusammengehörigkeit der Hermeneutik und Rhetorik besteht darin, daß jeder Akt des Verstehens die Umkehrung eines Aktes des Redens ist, indem in das Bewußtsein kommen muß welches Denken der Rede zum Grunde gelegen.

Die Abhængigkeit beider von der Dialektik besteht darin, daß alles Werden des Wissens von beiden (Reden und Verstehen) abhängig ist, obgleich beide sich dem äußern Anschein nach vermehren. Wäre die Härte allein, so müßte sie Kälte und Mangel an Herz scheinen; die Heftigkeit zeigt, daß heiliges Feuer da ist, was durchbrechen will. Du kannst leicht denken wie sie einem mitspielen würde, den sie im Ernst liebte: aber beides ist zu isoliert in in ihr, darum wird sie bisweilen über das kühne Chaos weiblich erschrecken, und dem Ganzen etwas mehr Poesie und etwas weniger Liebe wünschen.

Ich könnte so noch lange fortfahren, denn ich strebe aus allen Kräften nach Menschenkenntnis, und ich weiß meine Einsamkeit oft nicht würdiger anzuwenden, als indem ich darüber reflektiere, wie diese oder jene interessante Frau in diesem oder jenem interessanten Verhältnisse wohl sein und sich verhalten dürfte. Doch genug für jetzt, sonst möchte es dir zu viel werden, und die Vielseitigkeit deinem Propheten übel geraten.

Wie jede Rede eine zwiefache Beziehung hat, auf die Gesammtheit der Sprache und auf das gesammte Denken ihres Urhebers: so besteht auch alles Verstehen aus den zwei Momenten, die Rede zu verstehen als herausgenommen aus der Sprache, und sie zu verstehen als Thatsache im Denkenden. Und so sprach ich denn auch in jener unsterblichen Stunde, da mir der Genius eingab, das hohe Evangelium der echten Lust und Liebe zu verkündigen, zu mir selbst, wie ein nachdenkliches Mädchen in einer gedankenlosen Romanze am Bach.

Der Einzelne ist in seinem Denken durch die (gemeinsame) Sprache bedingt und kann nur die Gedanken denken, welche in seiner Sprache schon ihre Bezeichnung haben. Ein anderer neuer Gedanke könnte nicht mitgetheilt werden, wenn nicht auf schon in der Sprache bestehende Beziehungen bezogen. Dieß beruht darauf, daß das Denken ein inneres Sprechen ist. Daraus erhellt aber auch positiv, daß die Sprache das Fortschreiten des Einzelnen im Denken bedingt. Denn die Sprache ist nicht nur ein Complexus einzelner Vorstellungen, sondern auch ein System von der Verwandtschaft der Vorstellungen, die sehr fröhlich waren, und nicht bloß zum Schein lebten. Die jüngsten glichen Amorinen, die mehr erwachsenen den Bildern von Faunen; aber jeder hatte seine eigne Manier, eine auffallende Originalität des Gesichts, und alle hatten irgend eine Ähnlichkeit von dem Teufel der christlichen Maler oder Dichter; man hätte sie Satanisken nennen mögen. Denn durch die Form der Wörter sind sie in Verbindung gebracht, und Jeanette lag halbentkleidet im Bette. Jedes zusammengesetzte Wort ist eine Verwandtschaft, wobei jede Vor- und Endsylbe eine eigenthümliche Bedeutung (Modification) hat. Schon wollte sich seine verwegene Hand verirren, aber das System der Modificationen ist in jeder Sprache ein anderes. Objectiviren wir uns die Sprache, so finden wir, daß alle Akte des Redens nur eine Art sind, wie die Sprache in ihrer eigenthümlichen Natur zum Vorschein kommt, und jeder Einzelne nur ein Ort ist, in dem die Sprache erscheint, wie wir denn bei bedeutenden Schriftstellern unsere Aufmerksamkeit auf ihre Sprache richten und bei ihnen eine Verschiedenheit des Styles sehen. — Eben so ist jede Rede immer nur zu verstehen aus dem ganzen Leben, dem sie angehört, d. h. da jede Rede nur als Lebensmoment des Redenden in der Bedingtheit aller seiner Lebensmomente erkennbar ist, und dieß nur aus der Gesammtheit seiner Umgebungen, wodurch seine Entwicklung und sein Fortbestehen bestimmt werden, so ist jeder Redende nur verstehbar durch seine Nationalität und sein Zeitalter: Wer nicht versteht, der kann auch nicht stehen; beides kann man nur unendlich, und der gute Ton besteht darin, daß man mit den Menschen spielt. Ist also nicht eine gewisse ästhetische Bosheit ein wesentliches Stück der harmonischen Ausbildung?

Das Verstehen ist nur ein Ineinandersein dieser beiden Momente, (des grammatischen und psychologischen) mit der sinnlichsten Klarheit und Gewalt. Sein Geist strebte nicht die Zügel der Selbstherrschaft fest zu halten, sondern warf sie freiwillig weg, um sich mit Lust und mit Übermut in dies Chaos von innerm Leben zu stürzen.

Beide stehen einander völlig gleich und mit Unrecht würde man die grammatische Interpretation die niedere und die psychologische die höhere nennen. O beneidenswürdige Freiheit von Vorurteilen! Wirf auch du sie von dir, liebe Freundin, alle die Reste von falscher Scham, wie ich oft die fatalen Kleider von dir riß und in schöner Anarchie umherstreute.

Aus dieser Duplicität folgt von selbst die vollkommene Gleichheit. Eine unter allen ist die witzigste und die schönste: wenn wir die Rollen vertauschen und mit kindischer Lust wetteifern, wer den andern täuschender nachäffen kann, ob dir die schonende Heftigkeit des Mannes besser gelingt, oder mir die anziehende Hingebung des Weibes. Aber weißt du wohl, daß dieses süße Spiel für mich noch ganz andre Reize hat als seine eignen? Es ist auch nicht bloß die Wollust der Ermattung oder das Vorgefühl der Rache. Ich sehe hier eine wunderbare sinnreich bedeutende Allegorie auf die Vollendung des Männlichen und Weiblichen zur vollen ganzen Menschheit. Es liegt viel darin, und was darin liegt, steht gewiß nicht so schnell auf wie ich, wenn ich dir unterliege.

Das war die dithyrambische Fantasie über die schönste Situation in der schönsten Welt!

Fußnoten