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Lorettoberg mit dem Hildaturm; Freiburg im Breisgau

Gilles de Retz

„(...) Die Märchen sind voller Türme und Schlösser. (Man sagt, daß in heidnischen Zeiten ewige Feuer auf runden Türmen brannten.) Die Zimmer, in denen Recht, Unrecht und Zauber geschieht, liegen einsam und hoch über dem Alltag. Ein Mädchen läßt die langen Zöpfe aus einem Fenster bis auf den Boden herabhängen, eine Hexe klettert daran hinauf, Tag für Tag, und mißbraucht das kaum herangereifte Kind, das erst erlöst wird, nachdem ein Reiter vorüberkommt und auch die seltsame Leiter benutzt. – Kann man sich jenen reichen und mächtigen Gilles de Retz, Marschall von Frankreich, der mehr als hundertundvierzig Knaben tötete, ohne Schloß und Turm denken? Er war schön wie nur je ein Mann gewesen ist, umgänglich, wohltätig. Er sprach fließend lateinisch. Er liebte die Musik, war fromm und verehrte Gott in einer prunkvollen Kirche, die er hatte erbauen lassen, mit Instrumentalmusik und Singekören. Als Jeanne d'Arc den König von Frankreich zur Krönung nach Reims führte, wurde Gilles de Retz beauftragt, die heilige Ampulle mit dem Salböl zu tragen. Aber er verfiel mystischen Studien. Er beschwor die Teufel Banon, Orient, Beelzebub, Satan und Belial. Ein Priester aus Italien hatte ihm versprochen, diese Dämonen vorzuführen. Wäre es ohne einen sagenhaften Wohnsitz in den Wäldern von Nantes möglich gewesen, daß er die Herde der Kinder an sich brachte, um ihr Blut, das durch ihn besudelt war, in Rubinen oder Gold umzuschmelzen? Muß der Ort nicht von fürchterlichem Gestank erfüllt gewesen sein? Man fand dort nach des Marschalls Verhaftung in einem einzigen Faß die Knochen von vierzig Knaben. Die Latrinen stanken vom verwesenden Fleisch. Jede Stelle des Schlosses war mit Blut benetzt. Man muß es weit umher gerochen haben. – Indessen, die Wohnplätze der Menschen stanken während des ganzen Mittelalters. Die Städte stanken. Paris stank schlimmer als ein Kothaufen. Auch Nantes wird gestunken haben – die flachen Gräber auf den engen überfüllten Friedhöfen, die Kirchen mit den kaum vermauerten Grüften. – Man machte ihm, nach einigem Zögern, 1440 den Prozeß. Er war erst 36 Jahre alt, als er hingerichtet wurde. Die Richter bekreuzigten sich, als sie seine Geständnisse hörten; sie erfuhren die Ursachen dieses Zerwürfnisses mit der Schöpfung nicht, die Gedanken des Mannes. Man erfährt dergleichen niemals. Das Protokoll, das angefertigt wurde, ist in den Einzelheiten des Verbrechens offen genug; aber ganz stumm über den Täter, den Menschen. Das grauenvolle Experiment ist vergeblich gewesen. Alle Ausschreitungen der Seele sind vergeblich. Sie bringen keinen Aufschluß über die Menschheit. Der Mensch ist zu allem fähig, weil seine Instinkte vom Glauben verzehrt worden sind. Vom Glauben an das Gute und an das Böse. An Gott und den Teufel. An einem Punkt seiner Seele hat der Mensch aufgehört, Tier zu sein. Er urteilt. Sogleich zieht er die ganze Schöpfung in sein Urteil mit hinein. Er ist ein schlechter Richter. Er hat immer schlecht und falsch gerichtet. Seine Strafen überboten immer das Verbrechen. Denn die Strafen gehen von der Macht aus, die Verbrechen von der Armut, vom Zweifel und von den Trieben. Man erfährt immer nur die Technik der Verbrechen. – UND DER BENANNTE HERR EMPFAND VIEL GRöSSERES VERGNüGEN, IHNEN DEN HALS DURCHZUSCHNEIDEN ODER ZUZUSEHEN, WIE IHNEN DER HALS DURCHSCHNITTEN WURDE, ALS SIE ZU ....... ER LIESS IHNEN DEN HALS VON RüCKWäRTS, VOM GENICK AUS DURCHSCHNEIDEN, DAMIT DAS LEIDEN LäNGER DAUERE. – Er hatte Helfer. Sein Diener Henri allein lieferte ihm im Laufe weniger Jahre vierzig Kinder. Eine alte Frau war von Dorf zu Dorf gewandert, hatte Knaben, die bettelten oder das Vieh hüteten, kleine Geschenke gemacht und sie auf das Schloß des Marschalls gelockt. Als alles vorüber war, ihr Leben und das ihres Mörders, blieb das Unheimliche zurück und spie hundert Sagen aus, hundert Varianten einer unbegreiflichen Betätigung. Er muß an Gott geglaubt haben, denn der Ungläubige kann sich dem Bösen nicht verschreiben. (Er hat es immer wieder beteuert, er habe dem Teufel vieles geopfert, um mit ihm auf gutem Fuße zu stehen – doch nicht sein Leben und seine Seele, die Gott gehörten.) Er schaffte einen unüberbrückbaren Abstand zu Seinesgleichen. Nein, die Chemie seines Leibes hatte diesen Abstand von seinem ersten Atemzug an vorbereitet. Er war verrückt, aber er kannte seine Taten.“
Ich glaube, ich gebe meine Worte richtig wieder. Sie schienen Ajax verständlich geworden zu sein.
„Die unheimlichen Orte verschwinden allmählich vom Angesicht der Länder“, sagte er.
„Ja“, antwortete ich, „wäre ich ein mächtiger Herr oder unermeßlich reich, so würde ich einen Turm erbauen lassen, mit vielen Stockwerken übereinander, mit Mauern, die Stürmen und Feuersbrünsten wiederstehen, zu nichts weiter dienlich, als den heimatlosen Gedanken der Menschen ein Stätte zu geben, vielleicht, daß ein Uhrwerk brausenden Glocken eine Stimme verliehe. – Fledermäuse und Dohlen bekommen eine Wohnung. Und die Toten begegnen dort einander in den Nächten, die ihnen gehören.“
„Warum wollen Sie das?“ fragte er.
„Weil es zwecklos ist“, antwortete ich, „nur das Zwecklose wird vom Hauch des Ewigen berührt. Man kann Wolkenkratzer so hoch bauen wie man es vermag, es werden keine Türme sein.“
„Türme“, sagte er, „Türme und Verließe, in die Höhe und in die Tiefe bauen, Sie meinen, es ist ein Bedürfnis der Menschen?“
„Man kann es vermuten“, sagte ich, „doch sind die Menschen verschieden. Eigentlich kenne ich sie sehr wenig. Ich lese zuweilen von ihnen. Ich habe vor ein paar Wochen auch von Gilles de Retz gelesen, von der schrecklichen Zeit des Hundertjährigen Krieges. – In meinem Heimatort gab es nur einen Turm. In seinem höchsten Gelaß wurde ein Knabe ermordet. Das ist gewiß kein Lob für diesen Turm. Aber ich kann ihn nicht aus meiner Erinnerung fortwischen. Ohne ihn würde ich keine erste Heimat haben. Berichtete man mir, er wäre verschwunden – niedergerissen worden, ich würde die Leere des Platzes spüren und eine Leere in meinem Herzen.“
Er schaute mich fragend an.
„Ein Mord?“ fragte er.
„Ja“, antwortete ich.
„Sie haben über Gilles de Retz etwas Vorteilhaftes angedeutet“, sagte er, „daß er seinen Spekulationen erlegen sei, an Gott geglaubt und das Böse erkannt habe.“
„Das ist ein Mißverständnis“, sagte ich, „ich habe nichts Vorteilhaftes über ihn sagen wollen, wohl aber etwas Unvorteilhaftes über die menschliche Gesellschaft. Ich suche den Schuldigen, doch nicht den Täter. Ich denke mir allenfalls, daß er anders war, als mein Nachbar ist, den ich kenne. Dieser hat an einem einzigen Morgen, ich kam gerade darüber zu, einhundertundfünzig Hühner geschlachtet. (Genau so viele Hühner wie der Marschall von Frankreich Knaben.) Auf dem Haublock hat er sie mit einem Beil geköpft. Er wollte sie in die Stadt verkaufen. Der Hund stand dabei und verschlang die ersten zwanzig Köpfe, in denen das Hirn und die Augen noch lebten. Der Hühnerschlächter hat sein Tun nicht erkannt. Ich beschuldige ihn nicht; ich sage nur, er ist ein anderer Mensch als Gilles de Retz es war. Eine solche Feststellung führt nicht weit. Sobald man aus der Geschichte heraustritt und zu seinem Nachbarn geht, verwirrt sich alles. Für mich jedenfalls verwirrt sich sehr viel. Es fällt mir schwer, den rechten Maßstab zu finden, das Mitleid steht nicht hoch im Kurs; das ist vielleicht das Schlimmste. (...)“

Hans Henny Jahnn: Die Niederschrift des Gustav Anias Horn nachdem er neunundvierzig Jahre alt geworden war. Bd. II