Zuweilen hockten wir ein paar Stunden im Gasthaus; seltener gingen wir auf einen Tanzboden und schauten den Paaren zu, den jungen, den älteren und den ungleichen. Wir wollten nicht vergessen, daß von ihnen die Menschenwelt errichtet wird, hier wie überall – daß wir eine Art der Verlorenen. Zuschauen wie andere tanzen. Was für ein Vergnügen konnten wir daran finden? Oder ging es uns nur um die Lehre? – Es war uns ein Fest wie den anderen. In der Kirche und in den Wohnungen wird dagegen geeifert. Man malt den jungen Mädchen die Gefahr mit frommen Ermahnungen und unfrommen Andeutungen. Aber sie wollen nichts anderes, als in der Gefahr der Liebe sein. Sie putzen sich mit unzureichenden Mitteln für ein mögliches Opfer. In einem Kasten verwahren sie einen unechten Schmuck, ein Spitzentaschentuch, ein Fläschchen mit Kölnischem Wasser oder Parfüm. Sie rechnen die Tage ihrer monatlichen Blutung aus und sind tödlich betroffen, wenn das Unwohlsein ihnen ein Fest zerstört. Es ist herzzereißend, wie sehr sie an die Liebe glauben, und wie entschlossen sie bald nachher dem trockenen Dasein einer Ehefrau zustreben. Nur weil wir fruchtbar sind, weil die Natur etwas anderes mit ihnen vorhat. Und wie unbarmherzig sie in der Ehe werden, wie nüchtern und lieblos, arbeitsam und begehrlich nach Geld, gefühllose Hühnerschlachterinnen. Und wie es ihnen ansteht, die Kinder zu erziehen! Die große Skala des Nützlichen und des Unnützen ist den Jungen so geläufig wie den alten Vetteln.
Die Burschen gleichen vielmehr den Tieren. Sie kennen die Liebe gar nicht, nur die Eifersucht. Sie wollen ein Etwas in warmes Fleisch hineintun. Sie schämen sich nicht, alle Versuche zu wagen. Sie sind zudringlich und kindlich zugleich. Auch sie putzen sich mit bunten Schlipsen und verwegenen Mützen. Aber ihre Hände sind unsauber, und man weiß nicht, ob sie sich gebadet haben. Sie lernen es nur langsam, Väter und Ehemänner zu werden. Manche Greise mit Kindeskindern haben es noch nicht gelernt. Sie sind das Oberhaupt der Familie und sitzen am Ende des Tisches in einem Stuhl mit Armlehnen wie auf einem Thron; aber sie besitzen keine Macht. Und doch, jedes der Paare hat sein Schicksal, sie sind so verschieden. Es gibt die sieben Todsünden und die sieben Tugenden, ihr angebliches Gegenteil, Hochmut, Zorn, Neid, Lebensüberdruß, Geiz, Völlerei, Wollust – die Unschuld des Lasters und die Schuld der Wahrheitssuche. Aber die Kraft des Geschlechts läßt sich nicht beirren und ist bei allen Gesunden die gleiche, mag sie abirren oder zeugen. – Die Gestalten unter den Kleidern, unter der Scholle der Kirchhöfe liegen sie genau so. Mit gleichen Leibern, nicht anders, schon mit Jahrhunderten bedeckt.
Es ist erregend, ihnen zuzuschauen. Sie sind so blind, so töricht, getrieben. Das Zetern der Priester erreicht sie nicht. Der Fluch der Alten ritzt ihre Haut nicht. Es ist ihre Zeit. Und wenn es schlimm kommt, ist der Arzt ein besserer Freund als die eigene Mutter.
Hans Henny Jahnn: Fluß ohne Ufer > Die Niederschrift des Gustav Anias Horn nachdem er neunundvierzig Jahre alt geworden war > Bd. II