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Paul Mongré tritt aus dem Durcheinander von Chaos und Kosmos

zerknüllte, nasse Papierserviette, Alufolie, Spritzer auf grauer Schreibtischplatte; Foto

Nach und nach entschleiert sich die freie Aussicht, die Grenze der uns auferlegten Immanenz, jenseits deren das Gebiet des Unvorstellbaren und Undarstellbaren beginnt, rückt langsam von außen nach innen, sodaß wir wenigstens auf den Zwischenstufen der Betrachtung uns noch einen gewissen Anthropomorphismus der Ausdrucksweise gestatten dürfen, während der deduktive Gang uns zu einer Sprache peinlichster Begriffsschärfe und farblosester Abstraktion nötigen würde. Freilich muß gerade in dieser Hinsicht auf die Nachsicht des Lesers gerechnet werden, denn nur die vertrackten Ereignisse dieser einzigen Nacht werden Gegenstand der folgenden Blätter sein.

Unserem leitenden Prinzip zufolge führen wir am Anfang unserer Schlußketten intermediäre Hilfsbegriffe ein, die wir am Ende selbst für unzulässig erklären, Begriffe, in denen ein Zugeständnis an den Realismus erst bewilligt dann zurückgezogen wird. An einem Beispiel, das schon anderweitig bekannt ist, läßt sich diese Schlußweise erläutern: wegen der Relativität unseres Messens fallen die absoluten Maße der Raumgegenstände nicht in unser Bewusstsein – wir würden nichts davon merken, wenn das Weltall seine wirklichen Dimensionen plötzlich hundertfach vergrößerte oder verkleinerte, da an dieser Gesamtänderung sowohl die zu messenden Objekte als auch unsere Maßstäbe teilnehmen. Sollte das nun etwa heißen, das Weltall wäre wirklich, im transzendent realistischen Sinne, ein beliebig aufschwellender oder einschrumpfender Gummiball? Anna nickte bekräftigend, als ob sich das alles ganz von selbst verstünde, Ferdl fuhr fort: Sie gehörte allen Menschen; jeder konnte sie nehmen, sollte sie nehmen. Sie sei so schön; sie singe so rein; es sei eine Versäumnis, dies zwischen seinen vier Wänden verdorren zu lassen. Sie trat als Tänzerin in einem Varieté auf. Nun fiel sie wie ein Blumenregen über den Raum, die transzendente Möglichkeit hiervon bewiesen wir damit, daß in den empirischen Wirkungen e und e1 kein Unterscheid zu bemerken, also e1=e zu setzen sei. Von dieser Beweisart und ihrer nicht absoluten Zuverlässigkeit, die mehr auf plausiblen Erwägungen als auf strengen Schlüssen beruhte, gilt es nunmehr sich zu befreien; es werde also jetzt e1 verschieden von e angenommen. Also möge etwa die alleinige Realisation eines Individuums von diesem als nicht gleichwertig mit der Gesamtexistenz aller Individuen empfunden werden; die transzendente Vernichtung des Raumteils A mag sich innerhalb des realisierten Raumteils I verraten; irgendeine Transformation des empirischen Rauminhalts möge seine empirische Erscheinung in den ihn wahrnehmenden Intellekten modifizieren – lauter Annahmen, die wir bisher bestritten und die wir jetzt zulassen, um auch dann noch die transzendente Möglichkeit der Umformung von c in c1 zu behaupten. Der Beweis beruht auf einer etwas erweiterten Fassung unseres allgemeinen Prinzips, wonach alles, was den empirischen Effekt nicht zerstört, transzendent denkbar ist. Bei oberflächlicher Prüfung scheint freilich dieses Prinzip jetzt die fragliche Umformung gerade zu verbieten: »Bitte, beobachten sie einmal diese Formen!« – unterbrach mich der kleine Direktor, ohne auf meine letzte Bemerkung einzugehen. Ich sah durch das Guckloch. In einem anscheinend feuchtwarmen, von der Außenluft abgeschlossenen, Baderaum lag ein wunderschönes Mädchen, anscheinend schlafend, halb bekleidet, an einem künstlichen Rasengrund angelehnt, aber alles ganz weiß, wie aus feuchtem Thon erst hergestellt, und augenscheinlich unvollendet; Formen, Positur, Draperie, die Füßchen, Schuhe, die durchbrochenen Strümpfe, der Spitzen-Besatz, Alles in reizender Harmonie, und mit künstlerischer Vollendung. – »Wenn Sie jetzt noch etwas auszusetzen haben, sprach der Direktor vom andern Guckloch her, welches er eingenommen hatte, so ist's jetzt noch Zeit; jetzt ist Alles noch weich, eindrucksfähig, dehnbar; sind die Augen einmal fertig, erscheint die Röte des Herzschlages auf ihren Wangen, erwacht sie, dann ist es zu spät; dann ist sie, was sie ist, ein Mädchen, heiter, launisch, kokett, eigensinnig, dick, dünn, schwarz, brünett mit allen Fabrikfehlern. Doch nicht eben dieselbe. Wir würden den empirischen Effekt e und seine transzendente Ursache c1 abzulehnen haben, wenn e1 sich selbst störend in e hineinschöbe, daß das Bett unter den Beinen krachte und Mizzi laut zu schnaufen begann und ihm die Existenz streitig machte. Aber es ist ja für beide Platz! Das wissen wir schon von der Untersuchung der zeitlichen Sukzession her; dort entsprach von den verschiedenen Bewegungsweisen des Gegenwartpunktes nur eine einzige unserer empirischen Bewußtseinswelt, während die übrigen entweder Abwesenheit des Bewußtseins oder sogar, im Falle umgekehrter Bewegungsrichtung, eine ganz neue, für uns unzugängliche Bewußtseinswelt erzeugten! Gegen fünf Uhr nachmittags klingelte sie, lächelnd, freudig erregt, im weißen Mädchenkleid, unter einem mächtigen Florentinerhut, fiel ihm um den Hals und plapperte, wie glücklich sie sei, wie gut sie gefallen habe, wie sie sich freue auf heute Abend. Er fragte nicht, wo sie heute Nacht gewesen sei, wenn sich in der absoluten Zeit außer e auch die genannten Fälle von Nicht-e abspielen dürfen, so darf sich auch e1 abspielen; für uns, die wir währenddessen zur Nichtexistenz verurteilt sind, kann es gleichgültig sein, ob die transzendenten, empirisch unwahrnehmbaren Pausen unseres Daseins mit Nichts oder irgendeinem anderen Etwas ausgefüllt sind. Uns also wird sich die empirische Zeit beständig mit e erfüllt zeigen, während in der absoluten Zeit e mit Nicht-e, zum Beispiel auch e mit transformierten Vorgängen e1 e2 e3 . . . . beliebig wechselt. Von allen diesen Fällen wird nur der eine Fall e Objekt unserer Erfahrung, wogegen sich die Fälle Nicht-e aus dem Komplex unserer Welt von selbst eliminieren; anders ausgedrückt, der Fall e hat für uns subjektive Gewißheit, an sich nur eine beliebige, auch beliebig kleine objektive Wahrscheinlichkeit. – »Es ist ja nur Cochenille!« rief das kleine, trockene Männchen, hinter mir dreinkeuchend, »es ist ja nur Cochenille!«

Den hier ausgesprochenen, für die Folge sehr wichtigen Grundsatz möchte ich ein auf die Erkenntnistheorie übertragenes Prinzip der indirekten Auslese nennen. Das Wort indirekt, das schärfer durch automatisch, selbsttätig oder dergleichen zu ersetzen wäre, soll hier wie in der Biologie bedeuten, daß der auserlesene Fall nicht von vornherein als einzig wirklicher unter lauter bloß gedachten Fällen bestand, sondern in die tatsächliche Konkurrenz mit ihnen hineingestellt vermöge innerer Besonderheiten sich als einzigartigen heraushebt. Im Nebeneinander des Zweckmäßigen und Unzweckmäßigen überlebt, wegen seiner Lebensfähigkeit, das Zweckmäßige; aus dem Durcheinander von Chaos und Kosmos tritt, vermöge seiner Beziehung zu unserem Bewußtsein, nur das Kosmische in unseren Gesichtskreis. Und Herr Wheatstren führte die junge blonde Dame, die er auch heiratete, bald aus auf die Rennplätze, in die Theater; behandelte sie roh und mit Berechnung. Sie aber pries ihn auf Schritt und Tritt, weil er ihr das Höchste bot, was es auf Erden gäbe, nämlich erhebliche Abwechslung.

Fußnoten