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Des Salomon Maimon Zweck, Wille, Trieb und Begierde

Silberturm in Frankfurt am Main; 2012-11-22

Traumland | Klumpatsch auf der Arbeitsfläche im Büro, von der tief stehenden Sonne beschienen; Foto

Praktische Grundsätze sind entweder subjektiv (Maximen) oder objektiv. Jene beziehen sich auf einen besonderen Hauptzweck außer der Handlung; diese aber auf die Handlung als Zweck an sich. Jene sind hypothetisch; diese aber kategorisch. Ein idealischer Zweck ist das Ziel der Handlung als Zweck betrachtet.

—Ich konnte mir denken, daß Sie nicht ohne edlen Zweck bleiben würden, neckte sie maliziös. Was ich für eine Garderobe gehalten hatte, erwies sich als ihr Schlafzimmer. Ein sehr niedriges Bette in Quadratform stand in der Mitte eines runden Raumes, dessen Decke kuppelförmig gewölbt war, auf einem weißen Teppiche. Längs der Wand lief eine Bank aus rotem Leder. In die Wand waren schwarze Schränke eingelassen. Fenster konnte ich nicht entdecken. Rings um die Kuppel brannten ein paar grüne elektrische Flammen. Elvire war in einem Augenblicke nackt. Sie warf sich in ihre Kissen und lachte mich an. Welche Situation! Ich ließ mich auf ihrem Bette zu ihren feinen Füßen nieder und sagte:

—Ein oberes Begehrungsvermögen ist so wie das obere Erkenntnisvermögen, ein solches, das sich auf ein Objekt überhaupt, in wie fern es durch die Form a priori bestimmt wird, bezieht. Die objektive Realität des oberen Begehrungsvermögens kann durch die objektive Realität des oberen Erkenntnisvermögens dargethan werden.

So! Konnte ich es besser treffen? Ich beobachtete sie angespannt. Jeden vulgären Gedanken an einen erotischen Kontakt wies ich weit von mir. Trieb besteht in der Entwickelung eines Vermögens mit Bewußtsein dieser Entwickelung verknüpft, ohne Bewußtsein des Ziels oder Zweckes, und ist also a priori bestimmt. Begierde aber wird durch die Vorstellung eines a posteriori erkannten Zweckes bestimmt. Der Wille, in wie fern er durch einen äußern Zweck bestimmt wird, ist Begierde; in wie fern er aber durch die Vorstellung der Handlung als Zweck an sich a priori bestimmt wird, ist Trieb. Ein Wille, der durch das obere Begehrungsvermögen bestimmt wird, ist frei und allgemeingültig. Freiheit besteht in der Unabhängigkeit des Subjekts von Gesetzen der Natur, die sein Verhältnis zu gegebenen Objekten bestimmen, und seiner Bestimmung durch eigene, sich auf ein Objekt überhaupt beziehende Gesetze, trotzdem ich gewiß empfindlich genug gegen so viel Liebreiz blieb. Aber hier verweilte ich gleichsam in höherem Auftrag. Die Handlungsart des oberen Erkenntnisvermögens liefert uns eine Instanz davon, die wir allgemein machen, und uns dadurch der objektiven Realität des oberen Begehrungsvermögens versichern können. Das Motiv zur Moralität ist so wie das Motiv zur Erkenntnis, ein Trieb zur Darstellung einer allgemeinen Form in concreto, oder hatte sich vom Schlaf übermannen lassen, ohne Zeit gehabt zu haben, ihre Decke über sich zu ziehen. Das (in Kollisionsfällen) überwiegende Motiv ist die Vorstellung der Würde der Menschheit, die nur in der Handlungsart des oberen Erkenntnis- und Begehrungsvermögens sich äußert, schon um das erregend Verführerische ihrer nackten Glieder loszuwerden. War es das grüne Licht, oder leitet der Widerstreit zwischen der Handlungsart des oberen und des niederen Erkenntnis- und Begehrungsvermögens auf die Idee von Gott und Unsterblichkeit? Vollkommenheit ist eine im Subjekte selbst gegründete Ursache der Glückseligkeit, die zum Unterschied von der von Glücksgütern und äußeren Umständen abhängenden Glückseligkeit, schlechtweg Seligkeit heißen kann. Diese und nicht jene ist ein Gegenstand der Moral. Die Vervollkommnung des Menschen besteht in den durch die Uebung seiner Vermögen zu erlangenden Fertigkeiten. Eine jede Begierde ist ihrer Entstehung nach zufällig, und in so fern den wesentlichen Trieben entgegen. Die wilde Begierde dringt mit Gewalt auf das Weib und macht die Lust zum Entsetzen. Denn der rote Latz erhebt den gewölbeten Busen, schön geschnürt, und es liegt das schwarze Mieder ihr knapp an. Da versetzte der Pfarrer, mit Blicken die Sitzende prüfend:

—Der Zweck der Moral ist, den Willen als Trieb, und nicht als Begierde zu bestimmen.

Gelächter, Kreischen und Wiehern empfing ihn. Die Damen, nachdem sie herbeigerannt waren, versteckten sich in die verhängte Ecke des Zimmers, die vier Herren tobten um ihn im Kreis; sie stampften bocksbeinig einen wütenden Ringeltanz um ihn und zerrten ihn durch die Zimmer. Weit schlotterte und wehte, entblößend um seinen schmächtigen Rumpf, das rotgebänderte ausgeschnittene Nachthemd Alices; ein grünes Seidentuch, ein Zigeunertuch, hatte er über die nackten dürren Schultern gespreizt. Die Herren rissen es ihm aber ab, legten es über, bliesen es weg. Perlenbesetzte Nachtpantöffelchen schleifte er an den Zehen, hellblaudurchbrochene Strümpfe rutschten ihm herab von den Stöckerbeinen; über die angeklemmten Strumpfbänder stolperte er. Er hatte nicht gesehen, was er anzog; er tanzte mit den Herren, freute sich, suchte Alice, und während er mit ihr rang, den Zügel in der Linken, und sie ihm den Mund zerkratzte, von ihm abdrängend, war in seinem Kopf hell das Bild des strampelnden edlen Rosses, des rettenden edlen Tieres. Sein Körper strebte hoch, um sie auf den Sitz zurückzuschleudern, die Zügel anzureißen. In seine Arme aber kam ein blinder Willen: weg von Alice, weg von ihr. Die Hände mußten es tun, die Hände taten es. Vor seinen Augen stand noch auf einem weißen Vorhang das Bild des davonstürmenden Rosses mit der Frau auf dem Rücken; da sprachen seine Lippen in die Luft hinein das Totengebet über der stürzenden Frau, jede Silbe ein betäubender hirnfüllender Schluck Luft:

—Commendo te omni potenti, aspectus mitis atqe festivus tibi appareat.

Unter dieser Oberfläche geschieht das eigentliche Techtelmechtel.

Fußnoten